Redebeitrag von Azadi Berlin

CN: Gewalt, Sexualisierte Gewalt

Johanna,
Hallo.
Wir sind Johanna und Asita von Azadi Berlin
und haben uns im Frühjahr 23 auf der Straße kennen gelernt…
bei den vielen wiederkehrenden Protesten,
im Zuge der Woman Life Freedom-Bewegung.

Heute wollen wir euch auch auf die Straßen von Tehran mitnehmen, in das alltägliche Erleben iranischer Frauen,
das seit 1983 vom Artikel 638
des Strafgesetzbuches geprägt ist.
Der besagt, dass sich niemand in der Öffentlichkeit
in unsittlicher Art und Weise verhalten darf.

Asita:
Wer gegen diesen Artikel verstößt, kann mit einer Freiheitsstrafe von zehn Tagen bis zu zwei Monaten oder mit bis zu 74 Peitschenhieben bestraft werden.
Aber …„unsittliche Art und Weise“, was soll das sein?

Johanna:
Stellt euch vor,
enge Hosen, Make-up, Tattoos, Piercings, bunte Haare, Kleidung in fröhliche Farben

Asita:
Verboten!

Johanna:
Offenes Haar, den Wind spüren, den Pferdeschwanz wippen lassen, zu  Sportveranstaltungen gehen…

Asita:
Verboten!

Johanna:
Fahrrad oder Motorrad fahren, Tanzen und Singen außerhalb der eignen vier Wände…

Asita:
Verboten!

Johanna:
Ledig sein als Frau, alleine leben, reisen oder arbeiten ohne männlichen Vormund…

Asita:
Verboten!

Johanna:
In der Mensa oder im Hörsaal neben einem Jungen sitzen…

Asita:
Ach…Ich brauche es nicht mehr aussprechen…
Nein, dies ist keine dystopische Fiction –  dies ist Alltag in einem Leben mit gesetzlich etablierter Genderapartheid.

Johanna:
… denn die staatliche Gewalt ist buchstäblich zu verstehen.
… Ein Beispiel:
Stellt euch vor ihr habt die Bevormundung satt und geht raus, das Kopftuch locker, Make-up im Gesicht,

Asita:
plötzlich hält ein großer Wagen neben euch,
5-6 Frauen und Männer,  sogenannte Sittenwächter*innen,
( Gasht-e  Ershad) springen heraus,
du weißt es sind brutale Menschen, deine Angst ist groß,
sie beschimpfen dich, schlagen dich, reißen dich an den Haaren, setzten dich physisch und psychisch weiter unter Druck: „Du Stück Scheiße“ schreit einer, „warum läufst du rum wie eine Hure?“ Während seine Faust dich trifft.
Eine der Frauen hält sich etwas zurück,
sie ist nicht so aufgebracht wie die anderen,
mahnt sie zu  mehr Besonnenheit
und hält dir – in einer vermeintlich freundlichen Geste – ein Taschentuch hin. 
„Komm, sagt sie leise , schmink dich ab!“
Du greifst danach, froh, etwas tun zu können, fährst dir durchs Gesicht und erkennst zu spät, dass – ganz geschickt – eine kleine Rasierklinge in diesem Tuch versteckt war. Dann kommt der Schmerz…

Johanna:
Dies ist nur ein eines der vielen perfiden Beispiele, wie der Staat gegen die eigene Bevölkerung vorgeht.
Seit der islamischen Revolution 1979, seit über 44 Jahren also,  leben iranische Frauen in einer Gewaltherrschaft und unter systematischer Diskriminierung.

Die 22-jährige Jina Mahsa Amini wurde im September 2022 von der Sittenpolizei wegen „unangemessener Kleidung“ festgenommen und starb in Gewahrsam an den Kopfverletzungen verursacht durch Misshandlungen der Sittenpolizei. Sie ist das prominenteste Beispiel.
Die Liste der Opfer des Regimes jedoch ist lang und erschütternd:
Der erst 9-jährige Kian Pirfalak wurde im Auto der Eltern erschossen. Die Familie fuhr lediglich an einer Demonstration vorbei, auf die willkürlich Schüsse eröffnet wurden.
Die 16-jährige Nika Shakarami verschwand während einer Protest-Demonstration in Teheran – Tage später behauptet das Regime, sie sei bei der Flucht von einem hohen Dach gesprungen. Bei der Autopsie zeigten sich unzählige Verletzungen, auch verursacht durch schwere sexualisierte Gewalt.

Asita:
Armita Geravand, eine 16-jährige Schülerin, die in der U-Bahn kein Koftuch tragen wollte, fiel nach einer Konfrontation mit der Sittenpolizei in der U-Bahn ins Koma und verstarb kurze Zeit später. Die gleiche Geschichte wie bei Jina Mahsa Amini.
Hadis Najafi, nur 22 Jahre alt und durch ihre blonden Haare auf Protestvideos bekannt geworden, wurde auf einer Demonstration mit 6 Schüssen getötet.
Aida Rostami eine junge Ärztin, die trotz aller Verbote den vielen verletzten Protestierenden zu Hilfe kommen wollte, starb durch Folter. Ihr Gesicht war fast komplett zerschmettert, ihre Angehörigen konnten sie nur schwer identifizieren.

Man geht von über 500 Menschen aus, die in den letzten drei Jahre während oder nach den Protesten getötet wurden.
Oft wird ihren Familien der Zugang zu den toten Körpern verwehrt und sie werden stark unter Druck gesetzt.

Johanna:
Es gibt zahlreiche Berichte von Folter, oft durch Schläge, Auspeitschungen, Elektroschocks, Stresspositionen, Scheinhinrichtungen, Waterboarding, sexuelle Gewalt, die erzwungene Verabreichung chemischer Substanzen und die absichtliche Verweigerung angemessener medizinischer Versorgung oder sogenannter weißer Folter wie Isolationshaft.

Trotz dieser erdrückenden Situation, zeigen die iranischen Frauen einen unglaublichen Mut.
Inspiriert durch das Handeln und die großen Opfer kurdischer Kämpferinnen wird deren Schlachtruf „Jin Jian Azadi“ zu einem Persischen „Zan Zendegi Azadi“, der Menschen aller Ethnien und sozialer Schichten vereint. 

Asita:
Unter dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ gehen sie auf die Straße, riskieren ihr Leben für grundlegende Menschenrechte. Junge Frauen und Männer tanzen gemeinsam in der Öffentlichkeit, Frauen gehen ohne ihre Kopftücher auf die Straße, filmen sich dabei und teilen die Bilder in sozialen Medien – wohl wissend, dass die Agenten der Islamischen Republik sie jederzeit identifizieren, verhaften, foltern und sexuell missbrauchen können.

Johanna:
Aber dieser zivile Ungehorsam ist ein starkes Zeichen und gehört zum friedlichen Kampf gegen ein Regime, dass keinerlei Legitimität mehr besitzt und sich nur durch nackte Gewalt und willkürlichen Terror aufrecht hält.
Die IR ist das Land mit der höchsten Zahl an Hinrichtungen pro Kopf. Und sie machen nicht vor Frauen oder Minderjährigen halt.
UN-Bericht vom Januar 901 Fälle dokumentiert. Die in Oslo ansässige Organisation „Iran Human Rights“ dokumentierte in ihrem Jahresbericht 975 Fälle.
Eine der Frauen wurde erhängt,  weil sie ihren Mann getötet hat, um zu verhindern, dass die eigene Tochter vergewaltigt wird.

Vor ein paar Tagen wurde z.B.das Todesurteil gegen die Gewerkschafterin Sharifeh Mohammadi und die Umweltschützerin und Menschrechtsaktivitin Pakhshan Azizi  bestätigt. (Beides Kurdinnen, was kein Zufall ist. )

Asita:
Was können wir hier in Deutschland tun, um diese mutige Bewegung zu unterstützen?

Erstens: Bleibt informiert und sprecht darüber. Teilt verifizierte Nachrichten über die Situation im Iran in euren Netzwerken. Eure likes können Leben retten! Denn…
Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ist ein Schutzschild. So kann das Regime seine Gewalt nicht im Verborgenen ausüben.

Johanna:
Zweitens: Unterstützt Organisationen, die sich für Menschenrechte im Iran einsetzen. z.B. Hawar Help, Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und viele andere dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und unterstützen Aktivist*innen vor Ort.

Asita:
Drittens: Beteiligt euch an Demonstrationen hier in Deutschland. Zeigt den Menschen im Iran, dass wir ihre Stimmen hören und ihren Kampf nicht vergessen.

Johanna:
Viertens: Fordert von unseren politischen Vertreter*innen eine klare Haltung gegenüber dem iranischen Regime. Schreibt den Bundestagsabgeordneten, dass Deutschland mehr tun muss, um Menschenrechtsverletzungen im Iran zu sanktionieren.

Wir fordern keine Legitimierung illegitimer Herrscher unter dem Deckmantel falsch verstandener Diplomatie.

Asita:
Die iranischen Frauen kämpfen nicht nur für ihre eigene Freiheit. Sie kämpfen für universelle Menschenrechte, für Würde und Selbstbestimmung. Ihr Mut verdient unsere uneingeschränkte Solidarität und aktive Unterstützung.

Johanna:
Azadi heißt Freiheit.
Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass ihre Stimmen nicht verstummen. Dass ihr Ruf nach Freiheit gehört wird.
Denn ihre Freiheit ist auch unsere Freiheit.

Asita und Johanna:
Frau-Leben-Freiheit!
Vielen Dank.